
Wir treffen Serge nach Ladenschluss in der Nähe des Lokals, wo er seit gut zwei Jahren seinen eigenen Plattenladen hat. Da es etwas spät für Kaffee ist, wird das Gespräch zu einem «Bier mit Serge».
Seit über 20 Jahren beschäftigt sich Serge mit der Musikindustrie. Begonnen hat alles im legendären Chop Records, das vor wenigen Jahren geschlossen wurde. Wir merken sofort: Serge ist ein wichtiger Teil der Berner Musikszene und hat viel zu erzählen.
Vandals with Headphones: Serge, du bist nun seit über 20 Jahren Plattenhändler. Wie kam es dazu?
Serge: Ich habe zuerst eine KV-Lehre gemacht. Musik war aber schon immer eine grosse Leidenschaft von mir. Mit fünf habe ich mir meinen ersten Plattenspieler gewünscht und alles gehört, was rumlag. Das war vor allem Schlager aus den 60er-Jahren und Chansons. Auch ein bisschen Beatles. Die Affinität zur Musik begleitet mich eigentlich schon mein Leben lang. Über verschiedene Umwege bin ich dann 1997 zu Chop Records gekommen. So konnte ich mein Hobby zum Beruf machen.
Als dann der Laden 2017 geschlossen wurde, war für mich klar, dass ich als Plattenhändler weitermachen wollte. Da wir schon im Vorfeld wussten, dass der Laden geschlossen werden würde, war es für mich ein fliessender Übergang vom Chop Records zu meinem eigenen Plattenladen.
VWH: In der Musikindustrie hat sich seit 1997 unglaublich viel verändert. Hat das auch dich verändert, oder bist du der gleiche Plattenhändler, wie vor 20 Jahren?
S: Von der Art her, wie ich auf die Menschen eingehe, bin ich immer noch derselbe, wie vor 20 Jahren. Glaube ich zumindest. Ich denke, ich bin einfach immer noch der Serge, der hinter dem Tresen steht, Freude an Musik hat und dies rüberzubringen versucht.
Das ganze Drumherum hat sich aber natürlich komplett verändert. Schon nur, weil die Leute heute viel mehr wissen: Sie kennen die Bands besser, haben auf Streaming-Dienste vielleicht schon ein paar Singles eines Albums gehört und wissen genau, wann etwas erscheint.
VWH: Vermisst du etwas aus den Anfangszeiten?
S: Eigentlich nicht. Natürlich: Es war eine sehr geile Zeit. Ich habe auch den ganzen Übergang zur CD erlebt und so. Aber der Vergangenheit nachtrauern oder melancholisch zu sein, wäre fehl am Platz. Ich habe einfach immer noch riesigen Spass an den Platten.
VWH: Platten wurden eine Zeit lang als tot erklärt. Nun scheint Vinyl wieder aktueller zu sein…
S: Die Verkaufszahlen steigen tatsächlich wieder weltweit. Trotzdem erleben wir keinen «Boom». Vinyl-Verkäufe sind immer noch ein ganz kleiner Teil aller Verkäufe. Spannend ist aber, dass die Kundschaft ganz unterschiedlich ist: Vom Teenie, der eine Phase durchmacht und eine Janis Joplin Platte will, über den Indie-Nerd, der jede Woche die neusten Platten kauft, bis zum alten Opa. Es gibt kein Alter und keine soziale Schicht, die besonders angesprochen ist.
VWH: Wieso kauft man ein Album auf Vinyl, wenn man es auf Streaming-Plattformen sofort von zu Hause aus haben kann?
S: Ein sehr verbreitetes Muster ist, ein Album zuerst zu hören und falls man es toll findet, auf Vinyl zu kaufen. So unterstützt man einen bestimmten Künstler. Das heisst aber für mich auch, dass ein Album, das vor 15 Jahre top gewesen wäre, es heute nicht mehr unbedingt ist: Es reicht nicht mehr, wenn drei oder vier Songs auf dem Album gut sind. Für einzelne gute Songs kaufst du dir keine Platte. Deshalb verkaufen sich bei mir nicht unbedingt die grossen etablierten internationalen Namen auf Vinyl am besten. Ich lebe halt mittlerweile primär von Indie-Acts aller Art, spannenden Debutalben und Schweizer-Bands.
Allgemein ist es heute nicht einfach auszuwählen, was in den Laden kommt. Man hat nicht jede Woche die Kapazität alles reinzunehmen, muss aber schauen, dass jeden Freitag die richtige Platte zum richtigen Preis am richtigen Ort ist.
Gelingt mir dies nicht, kann das auch mal nerven: Kürzlich ist ein neues Album von Sheryl Crow erschienen. Ich habe einige Songs im Vorfeld gehört und diese eigentlich nicht als schlecht empfunden. Gleichzeitig war ich mir nicht sicher, ob sich überhaupt jemand noch dafür interessiert und habe deshalb keine Platten bestellt. Prompt sind dann Menschen in den Laden gekommen, die genau diese Platte wollten. Natürlich kann ich die Platte dann noch nachbestellen, aber mein Anspruch ist es, die Alben jeweils sofort im Laden zu haben.
VWH: Ein gutes Gefühl für Musik ist also unabdingbar als Plattenhändler.
S: Absolut! Jede Woche muss man auf die richtigen Releases spekulieren. Es steckt auch viel Recherchearbeit dahinter: Wie präsent ist ein bestimmter Künstler? Gibt es Gigs in der Nähe? Hat die Presse kürzlich etwas über ein bestimmtes Album geschrieben? Hat das Teil die nötige Qualität usw. Das sind alles wichtige Faktoren.
VWH: Kaufst du dir privat auch viele Platten. Oder bist du tatsächlich nur Verkäufer?
S: Heute bin schon vor allem Verkäufer. Ich war aber schon bevor ich in den Job einstieg, ein absoluter Musik-Junkie: Ich verpulverte mehr oder weniger meine ganze Kohle für die Musik. Dabei war es auch egal, ob Vinyl oder CD. Heute bin ich aber kein «Hardcore-Plattensammler» mehr. Es stehen bei mir zu Hause auch keine 70'000 Platten rum, wie man vielleicht denken könnte.
Ich bin auch nicht jemand, der in seinen Ferien in irgendwelche Städte reist, um dort nach Vinyl zu suchen. Ich mache rund 10 Tage Ferien im Jahr und dann mag ich es auch, nicht unbedingt nur Platten vor den Augen zu haben. Ausserdem bin ich nicht unbedingt der Raritäten-Jäger, der immer auf der Suche nach irgendwelchen Erstpressungen ist. Mein Gebiet sind vor allem Neuheiten.
VWH: Auf dem ersten Blick findet man in deinem Laden auch keine Sammler-Platten für hunderte von Franken…
S: Genau. Es hat eine kleine Ecke mit einigen Erstpressungen und etwas Second-Hand. Aber das Konzept des Ladens sind definitiv Neuheiten. Reissues haben natürlich auch immer Platz. Für aberhunderte von Franken seltene Platten zu verkaufen interessiert mich aber auch gar nicht wirklich. Dafür gibt es andere Läden oder Plattformen.
VWH: An deinem Laden sieht man, dass du grundsätzlich gegenüber jedem Musikstil offen bist. Wie schwierig ist es, über jeden Stil auf dem Laufenden zu sein?
S: Es braucht einfach wahnsinnig viel Zeit. Ein grosser Teil meines Jobs ist tatsächlich, Musik zu hören und zu entscheiden, was ich bestellen will.
VWH: Wie stark beeinflusst dein Musikgeschmack schlussendlich die Entscheidung?
S: Ob mir etwas gefällt oder nicht, ist nicht unbedingt ein Kriterium. Ich habe im Laden auch Dinge, die ich vielleicht eher nicht hören würde. Umgekehrt kommt es aber manchmal vor, dass ich etwas richtig gut finde, was vielleicht nicht alle kennen. In solchen Fällen pushe ich das Album umso mehr, damit die Leute darauf aufmerksam werden.
VWH: Was ist das normalerweise für Musik?
Ganz egal! Es muss mich einfach berühren und mir irgendetwas sagen. Es kann auch ein Mehrstimmiger Männerchor sein. Ich bin wirklich extrem offen. Was gut ist, finde ich gut.
In der nächsten Zeit freue im mich zum Beispiel auf die Noisy-Punks GIRL BAND aus Irland und auf die neue Angel Olsen.
Am Freitag erscheint der zweite Teil des Interviews mit Serge.