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«No 3 Nächt bis Morn» - Von T bis I

«Zwüschä üs lige 1000 Büecher, darum chani öich nid dissä». Diese Line stammt zwar nicht von Tommy Vercetti, sondern von Dezmond Dez, trotzdem war sie sinnbildlich für unsere Beziehung zu Tommy Vercetti’s letztem Soloalbum «Seiltänzer». Wir haben die Arroganz, uns eher als belesenere Menschen zu sehen, was Philosophie, Soziologie und Politik angeht. Einfach, weil wir gerne lesen und uns diese Gebiete interessieren.


Trotzdem haben wir wahrscheinlich bis heute nicht jede einzelne Metapher, jedes Sinnbild und jeden Querverweis aus «Seiltänzer» verstanden. Genau deshalb ist es eines der Alben, die wir bis heute, also fast ein Jahrzehnt später, immer noch gerne hören: Auch tausend Mal Repeat drücken, macht tausend Bücher eben nicht wett.


In diesem Artikel werden wir möglichst wenig Konkretes spoilern, aber etwas verraten wir euch: Auch dieses Album wird wahrscheinlich die nächsten zehn Jahre bei uns laufen. Wir sind zwar selbst ein knappes Jahrzehnt älter, haben ein paar hundert Bücher mehr gelesen und verstehen etwas mehr auf Anhieb, doch das Album hat so viel Fleisch am Knochen, dass wir locker einige Jahre daran nagen werden.


Aber lange Rede, kurzer Sinn: Das Album ist ganz gross. Hier 13 Dinge, die uns bei den ersten Durchgängen aufgefallen sind.


T wie Tochter

Wir hören Tommy Vercetti’s Tochter auf dem Track «Güetzi». Genau, sie kann schon sprechen: Wir können uns nur vorstellen, wie alt dies den Vater selbst fühlen lässt, wenn sogar wir das Gefühl haben, es sei erst gestern gewesen, als die Plattentaufe von Rosario auf den Kopf gestellt worden ist, weil Tommy Vercetti Vater wurde.


Dabei ist sie nicht etwa «nur» als Intro oder Outro auf dem Stück, sondern durch das ganze Lied hindurch zu hören. Tommy Vercetti’s Tochter dient mit ihrer Stimmte nicht nur als Vocal im Track: Besuche mit seiner Tochter auf dem Spielplatz dienten ihm gleich als Aufhänger für den Song. Rund um Beobachtungen, die er während verschiedenen Spielplatzbesuchen macht, baut er den ganzen Track auf.


O wie «ohni Kampf»

«Gäut regiert d Wäut meistens ganz ohni Kampf», rappt Tommy Vercetti. Er selbst tönt aber nie resigniert auf dem ganzen Album. Im Intro geht es darum, etwas zu machen, das Hoffnung gibt. Dies gelingt Tommy Vercetti gleich in mehreren Hinsichten. Einerseits mit seinen Texten, die wunderschön kämpferisch sind. Andererseits durch seine Musik als Ganzes: In einer Zeit, in der kommerzieller Erfolg fast nach Rezept erreicht werden kann, gelingt es Tommy Vercetti etwas radikal Anderes und vor allem etwas radikal Eigenes zu kreieren.


Dazu verhilft ihm Pablo Nouvelle, für dessen Arbeit auf dem Album wir bewusst den Begriff «Beats» vermeiden: Es handelt sich um wahrhaftige musikalische Kompositionen, die Tommy Vercetti’s Texten folgen und in Symbiose mit ihnen sind.



M wie Mchate Aliya

Song des algerischen Sängers René Pérez. Vocals aus dem Lied sind auf «Romeo & Julia» zu hören. Bei Pérez geht es um eine gescheiterte Liebe. Bei Tommy Vercetti ebenso, wenn auch auf eine andere Art. Bei Pérez gibt es noch Hoffnung, bei Tommy Vercetti im zweiten Teil des Tracks auch. Apropos zweiter Teil: sehr schön, ihr werdet es hören.


M wie «Mir wie jedi Chammere lade»

Es ist die letzte Line von «Money ist the reason why you don’t have any» und es geht um Russian Roulette. Im Track geht es um Eigentum bzw. kein Eigentum. Der Schluss des Songs mit der Line über «die Kammer laden» erinnert ein bisschen an den Schluss von «Superfun» aus dem Mixtape «EFM5». Dort rappte Tommy Vercetti noch «Nei, schiesset keni Fläsche uf d Outos vo de Cops, schiesset richtig wenns so wiit isch und zielet ufä Chopf».


Natürlich ist die Ähnlichkeit nur im weitesten Sinn erkennbar, aber trotzdem, in beiden Tracks ist dieselbe Wut zu spüren.


Y wie York

Genauer: «New York». Hauptsitz von Lehman Brothers, die Bank, die am 15. September 2008 Insolvenz beantragte und so Stein des Anstosses wurde für die Finanzkrise. Im Song «2008» geht Tommy darauf ein. «2008» weil in jenem Jahr eben «Eues System het gändet», wie er auch sagte, als er in der SRF Arena zu Gast war. Ausserdem unterstreicht der Sound die Botschaft sehr gut und der Refrain erinnert vage an «Hass» aus dem gemeinsamen Album mit Dezmond Dez «Glanton Gang».


V wie Vater

Tommy erklärt, dass er sich selber nicht mehr ein Vater sein kann, da seine Tochter einen «Pappi» braucht. Heisst dies nun, dass Eldorado FM auch nicht mehr unser Vater ist?


E wie «ei Hand wäscht di anger, und niämer häbt mini»

Aus dem Song «Vorem Gsicht». Beim ersten Hören des Albums wahrscheinlich das Lied, an dem wir am längsten hängengeblieben sind. Tommy Vercetti erzählt mit mitreissendem Flow. Dabei vermag er mit seiner genauen Sprache immer wieder klare Bilder durchs innere Auge des Zuhörers laufen zu lassen. Ihr dürft euch auf den Track freuen.


R wie Rost

Tommy Vercetti rostet nicht, es ist Patina. Diese Line hat Tommy aus einem Bounce-Cypher-Part von Lo aus dem Jahr 2018 übernommen. Wenn man «No 3 Nächt bis Morn» hört, muss man mit diesem Statement aus «Memo a Misäuber» einverstanden sein. In einem früheren Artikel über die Featurings des Albums schrieben wir, dass es sich bei diesem Lied um ein Sequel von «Briäf a Misäuber» handeln könnte. Stimmt zum Teil, das Lied entpuppt sich vor allem aber auch als Sequel von «Eifach so (Liebe 2)».


C wie Clubhit

Der Beat von Caliban beginnt und ich denke: «Wow, macht Tommy einen Clubhit?». Der Gedanke bleibt wenige Sekunden in meinem Kopf, dann setzt Tommy an und ich lächle kurz ab der Vorstellung, tatsächlich so etwas gedacht zu haben. Dann kommt die Hook, ich lächle wieder: Er wollte es so, ich war selber kurz der Caliban.


E wie Ego

In «Lied vom Zuunkönig» rappt Tommy unter anderem darüber, dass das Individuum so zelebriert wird, dass die Fähigkeit zum Kollektivdenken verloren geht. Alles gehört nur einer Person («mi Cash, mi Charre, mis Outfit») aber auch alle Probleme müssen alleine bewältigt werden («Mi Stress, mini Angst mini Depro»). Der Refrain ist dabei besonders catchy und bleibt lange nach dem Hören noch im Kopf.


T wie Thomas Hobbes

Bereits im Track «Santa Teresa» auf «Glanton Gang» rappte Dezmond Dez: «Der hobbsche Naturzuestang isch der Duurzuestang». Nun zitiert auch Tommy Vercetti den englischen Philosophen auf dem Track «Das Sozialleben der Wilden auf 0.65 AE». Zentral dabei ist jedoch, dass er noch hinzufügt: «soviu mir bis iz wüsse isch dr Wouf s Rudeltier». Genau darin scheint im Song nämlich noch die Hoffnung zu liegen.


T wie Trap

Trap gibt es auf diesem Album nicht. Wer Angst (oder Hoffnung) hatte, Tommy würde sich den aktuellen Hip-Hop-Tendenzen hingeben und ein Trapalbum machen, kann beruhigt sein. Natürlich war das ein Stück weit zu erwarten. Trotzdem heben wir diesen Aspekt heraus, da es nicht selbstverständlich ist: Würde Tommy kommerziellen Erfolg suchen, wäre Trap der einfachste Weg gewesen.


Producer Pablo Nouvelle zaubert bei jedem Beat einen neuen Sound her, der zu überraschen vermag und jedes Mal mit Tommy’s Texten ein stimmiges Ganzes bildet. Gefällt uns sehr!


I wie «Ingwer und ewig»

So heisst ein Album von Lo & Leduc. Auf «EFM 5» rappte Tommy Vercetti im Track «Züge vor Zügig» noch «wenn’s Lo und Luc schaffe, isches wenigstens ir Crew bliibä». Mittlerweile haben es Lo & Leduc, was den kommerziellen Erfolg angeht, auf jeden Fall geschafft. So rappt Tommy Vercetti auf dem neuen Album auch «Lo u Lucci heis gschafft».


Nach unseren ganz persönlichen Kriterien von «es geschafft zu haben», hat es Tommy Vercetti bereits seit «Ok, Tommy Vercetti, Ostbärn stang uf, was geit» aus dem Intro von «StrassenLampenBlind» und all den folgenden Werken geschafft. Mit «No 3 Nächt bis Morn» hat er es einfach noch einmal «geschafft».

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