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Organisierte Rekorde- Wie Fans die Musikindustrie beeinflussen

Direkt am Tag nachdem sich Twenty One Pilots am Gurtenfestival die Bühne nahmen, haben „TØP“ (kurz für Twenty One Pilots) alle Rekorde gebrochen. Ihr viertes Album «Blurryface» wurde schon im März 2018 zum ersten Album in der ganzen Musikgeschichte, dessen Lieder alle entweder mit Gold oder Platin zertifiziert wurden. Am 18. Juli 2019, schafften sie dies auch mit ihrem dritten Album «Vessel», das 2013 erschien. Was heisst: TØP sind nun die ersten Künstler mit zwei Alben, deren Songs alle Gold oder Platin zertifiziert sind.





Doch wie kann es sein, dass sie die ersten in der gesamten Musikgeschichte sind? Schliesslich gab (und gibt) es Weltstars, deren Erfolg auf den ersten Blick viel grösser zu sein scheint. Man denke nur an Legenden wie die Beatles oder die Rolling Stones, oder auch aktuelle Künstler, wie Jay-Z oder Popikone Taylor Swift. Und warum geschah dies erst 6 Jahren nach der Veröffentlichung des Albums?


Neue Spielregeln

Um einen möglichen Grund zu finden, müssen wir zurück in die Zeit schauen. Die RIAA (Recording Industry Association of America), welche diese Zertifikationen vergibt, änderte im 2013 ihre Kriterien, um Gold oder Platin zertifiziert zu werden.

Damit ein Lied Gold zertifiziert wird, braucht es 500‘000 Sales, fürs Platin braucht es 1‘000‘000.


Seit 2013 zählen aber auch die Streams auf den Plattformen wie Spotify, Apple Music etc. dazu. Ein sogenannter «permanenter Download» zählt wie ein normaler Kauf. Es braucht hingegen etwa 150 On-Demand Streams, damit diese als einen Kauf gelten.

Anfangs 2019 wurde auf Reddit eine Fan-Aktion gestartet, um auch alle Lieder des dritten Albums von TØP, das den Namen «Vessel» trägt, zertifizieren zu lassen. Es fehlten damals nur zwei Lieder: «Fake You Out» und «Truce», welche beim Anhören nicht wirklich nach Mainstream klingen. Trotzdem haben sich die Fans zusammengeschlossen und haben diese zwei Lieder bis zum geht-nicht-mehr gestreamt. So gelang es der Band, Musikgeschichte zu schreiben.





Treue Fanbasis

Nun ist es kein Geheimnis, dass die TØP-Fans sehr leidenschaftlich sind, wenn es um ihre Lieblingsband geht. Im 2017 haben sie zum Beispiel den APMA-Award für «Most Dedicated Fans» gewonnen.


Die Band interagiert während ihren Auftritten gerne mit dem Publikum: Während den Konzerten steigt die Band oft auf kleine Holz-Plattformen, welche auf das Publikum gestellt werden. Sei es nur der Sänger, Tyler Joseph, alleine, der durch die Crowd klettert, oder mit einem riesigen Hamster-Ball auf das Publikum rennt, oder sogar der Schlagzeuger Josh Dun, der mit seinem ganzen Schlagzeug auf das Publikum gestellt wird: Die Fans lassen sie nie im Stich.





An den Konzerten, egal ob offizielles Konzert oder Festival, tauchen die Fans mindestens in Band-Merch auf. Mindestens, weil TØPs Alben üblicherweise bestimmte Farben-Themen und Accessoires haben. So waren die Kleider der «Blurryface-Ära» Schwarz-Rot mit roten Mützen, Skeleton-Hoodies und weissen Sonnenbrillen, während die aktuelle «Trench-Ära» von den Farben Gelb und Militärgrün geprägt ist. Vor dem Konzert in Zürich im Februar 2019 waren die Trams gefüllt mit Fans, die mit gelbem Klebeband beklebten waren. Nichts ist zu viel für die TØP-Fans.





Persönliche Texte

Diese unglaublich starke Fanbase entsteht, weil TØP eine sehr persönliche Beziehung zu den Fans haben. Ihre Lieder, wenn auch upbeat und melodiös, drehen sich ausschliesslich um Themen wie Depression, Suizid, Selbstverletzung und grundsätzlich um «Mental Health».


Der Sänger Tyler Joseph erklärte in diversen Interviews, dass Liederschreiben ihm die Möglichkeit gebe, über Tabuthemen zu sprechen. Durch das Liederschreiben könne er von seinen Problemen erzählen, ohne dass die Leute mit ihm gleich ein Gespräch starten müssten. Es ermögliche ihm auch, den Leuten zu sagen, dass sie nicht alleine sind, und dass jeder mit seinen inneren Dämonen zu kämpfen habe.


TØP sind sehr offen gegenüber ihren Ängsten und inneren Kämpfen. So spricht etwa der Schlagzeuger, Josh Dun, oft von seiner «Social Anxiety», auch während er auf der Bühne einen Award akzeptieren muss, wie etwa an den AMAs 2016 als er sagte:


«I chose the drums so that I would never have to speak into a microphone in front of people, but here we are now. And I’m so nervous I think I might throw up».


Während den Konzerten werden auch oft motivierende Worte gesprochen, wie: «Stay alive friends, I promise you it’s worth it», oder: «The fact that you made it here tonight, that you made it through another day, is something worth celebrating».


Einige TØP-Fans behaupten, ihre Musik sei der Grund warum sie noch am Leben sind. Sie verlassen sich fast komplett auf die Band und ihre Musik. Das ist eine grosse Verantwortung, die diese Jungs auf sich tragen müssen. Schliesslich kann ja Musik alleine auch keinen Psychiater ersetzen.


Wie viel Verantwortung?

Kann dies überhaupt in der Verantwortung einer Band liegen? Wie der Komiker Bo Burnham in seiner Show «Make Happy» sagte:


«If I stop entertaining you, throw me to the curb. You wouldn’t stick with your mechanic if he stopped fixing your car. I’m in a service industry. I’m just overpaid, okay?

And I feel a lot of artists, pop artists especially, sort of infringe upon responsibilities that just aren’t theirs, in terms of their audience, maintaining their audience at an emotional level.»


Es ist grundsätzlich so, dass Fans ihre Beziehung zu Künstlern auf eine sehr persönliche und emotionale Ebene ausleben. Vielleicht auch verstärkt durch Social Media: Künstler sind auch ausserhalb des reinen künstlerischen Geschehens sehr präsent.


Das ist nicht immer einfach. Der Sänger Tyler Joseph ist sich dessen sehr bewusst und schreibt in seinem Anti-Suizid-Anthem «Neon Gravestones»:


«Promise me this, if I lose to myself, you won’t mourn a day and you’ll move on to someone else.»





Diese Fan-Künstler Beziehung ist grundsätzlich eine besondere Situation, schon nur weil die Fans die Künstler so gut kennen (oder zu kennen glauben), während diese Künstler ihre Fans natürlich nicht alle persönlich kennen. Es ist auf eine Art eine Give-And-Take Beziehung, die aber überhaupt nicht im Gleichgewicht ist.

Um bei den TØP zu bleiben: Ihnen ist die Musik wichtig. Natürlich spielt es mittlerweile sicher eine Rolle, dass sie durch ihre Musik gutes Geld verdienen. Trotzdem erklärt die Band, ihre Musik bis heute als eine Art Selbsttherapie zu erleben und das Geld als Nebensache zu betrachten. Kurz gesagt: TØP leben für ihre Musik, nicht von den Fans. Viele Fans hingegen, leben für TØP.


Durch diese grosse Verbundenheit der Fans gegenüber der Band konnte ein eher unbekanntes Album nach sechs Jahren noch zertifiziert werden. Als der Sänger Tyler Joseph gefragt wurde, wie sie diese doppelte Album-Zertifikation hinbrachten, antwortete der Sänger Tyler Joseph humorvoll:


«We tricked everyone. We made everyone believe that we’re good at what we do and we told our moms to always stream our music and so they’ve been streaming our music their entire lives and that’s how we got it.»


Der Band ist also auch bewusst, dass diese Zertifikationen ohne die angefressensten Fans nicht möglich gewesen wären.


Die Frage ist nur, machen solche «organisierten Rekorde» Sinn? Wird hier wirklich die Qualität der Musik gemessen, oder nur die Treue der Fans? Und weiter: Wie stark kann eine Beziehung zwischen Künstler und Fans tatsächlich sein? Wie ethisch vertretbar ist es, wenn Künstler finanzielle Vorteile aus einer solchen Beziehung ziehen?


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